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Wie der "estrongest" Tiger brüllt

Ein denkwürdiger Fußballabend steht in La Paz auf der Agenda. Der Lokalmatador "The Strongest" trifft im Copa de Libertadores auf eine mexikanische Mannschaft. Der fast wolkenlose Himmel in den frühen Abendstunden über der Stadt täuscht darüber hinweg, welche Wendung die Nacht noch bringen soll.


El Tigre

Man muss sich als Fußballfan in einer größeren Stadt mit zwei lokalen Mannschaften irgendwann entscheiden. Es ist in La Paz nicht anders als in Hamburg, München oder Berlin. Es wird einem entweder von den Eltern in die Wiege gelegt, oder es kommt von alleine. St. Pauli oder HSV? 1860 oder FCB? Hertha oder Union? Und in La Paz: The Strongest oder Bolívar? In La Paz ist der "Club The Strongest" (gesprochen: Estrongest) der Underdog mit dem Tiger als Logo und Maskottchen. Bolívar hat das dicke Geld, die teuren Spieler und die meisten Titel. Aber der Tiger ("el tigre") holt auf. Die letzten drei nationalen Titel gingen aufs Konto der schwarz-gelben Estrongistas, und auch im internationalen Geschäft läuft es gerade für den Tigre besser als für Bolívar.


Wir haben das letzte Match der beiden, den sogenannten "Clásico" (Bolívar gegen Strongest), im Jahre 2005 gesehen. Na klar waren wir bei den Tigern im Fanblock, und mussten damals eine herbe 2:0 Niederlage der Estrongistas mit ansehen. Doch seitdem sind wir "Tigres".



Té con té als Spielvorbereitung

Nun liegt also der Copa de Libertadores an - das südamerikanische Pendant (inklusive Mexico) zur Champions League in Europa. Bolívar ist nicht dabei (!) und The Strongest hat in Mexiko gegen Monarcas Morelio im Hinspiel zur Qualifikation zur Gruppenphase ein stattliches 1:1 herausgespielt. Nun gehts im heimischen Stadion um die Wurst, und der Tigre braucht jeden Mann zur Unterstützung. Auch Cousin Ivan und mich.


Wir treffen uns vier Stunden vor Spielbeginn zur taktischen Vorbesprechung und natürlich zum Aufwärmen in Ivans Wohnung in Los Pinos. Ein "Té con té" bildet für uns die solide (Wärme-) Basis des Abends und dient ebenso als Inspirationsquelle für das spätere taktische Vorgehen.


Té con té Boliviano (für 2 Personen)

Zwei Tassen sehr starken schwarzen Tee zubereiten. Je Tasse den Saft einer Limette und einen Teelöffel Zucker hinzufügen. Je Tasse ein Schnapsglas Singani hinzufügen (funktioniert auch mit zwei).


Wir beschliessen mit dem Trufi in die Innenstadt zum Stadion hochzufahren. Trufi ("Taxi con ruta fija) ist ein Taxi, welches auf einer festen Route fährt. Der normale PKW im Golfformat ist so umgebaut, dass insgesamt 9 Personen hineinpassen. Ivan und ich "sitzen" mit dem Fahrer vorne. Es ist mehr Yoga als sitzen. Nach und nach steigen weitere Fans hinzu, bis der Wagen voller Estrongistas ist. Alle sind ineinander verkeilt, bzw. liegen sich jetzt schon in den Armen und fachsimpeln. Ivan erzählt mir auf der Fahrt von den Korruptionsskandalen und Managementaffären des Clubs. Der letzte Präsident des Clubs sitzt gerade im Gefängnis. Kommt mir bekannt vor.



Spießrutentrinken im Sonnenuntergang

Das imposante Stadion liegt im Stadtteil Miraflores und ist fast vollständig von Hochhäusern umgeben. Es liegt auf 3.600 m.ü.M und ist damit eines der höchstgelegenen Stadien der Erde. Voller Ehrfurcht schreiten wir durchs Menschengewirr in Richtung des imposanten Betonkolosses aus den 70er Jahren. Die Straßen werden von unzähligen Fanständen und mobilen Miniküchen mit Würstchen und Schweinefleisch gesäumt. Es riecht streng nach verbranntem Fett. Weil im Stadion Alkoholverbot gilt, muss ich mir draußen Dosenbier kaufen, und dies irgendwie an den unzähligen Polizisten vorbei- und hineinschmuggeln. Einige Polizisten haben lange Uniformmäntel an, die bis zu den Waden reichen. Sind das alte SS-Uniformen? Furchteinflößend. Wir kaufen uns die Tickets und begutachten erstmal den Eingangsbereich. Es ist noch sehr früh, und so wird fast jeder, der durch den Kontrollbereich geht, auf Getränke abgetastet. Egal. Kaltschnäutzig, das Bier in der Arschtasche, laufen wir durch die Kontrolle und werden nicht angetastet. Nicht der letzte Erfolg an diesem Abend.



Das Stadion wird von einer Galerieebene umgeben, gleich einem Balkon, von der aus sich tolle Blicke in und über die Stadt ergeben. Außerdem ist hier die Fressmeile nochmal drastischer als auf der Straße. Überall brutzeln Würste und halbe Schweine. Ivan holt sich sein Schweinebrötchen, und wir gehen uns einen Platz im überdachten Tribünenbereich suchen. Überall ist Polizei. Wie soll ich hier mein Bier trinken? Es funktioniert dann irgendwie. Spießrutentrinken. In den zwei Stunden bis zum Spielbeginn geht langsam die Sonne unter, und das Stadionlicht an. Die Szenerie und das Licht der Stadt rundherum, die sich in die Berge hinaufschwingt, und den dunklen Himmel berührt, macht mich bisweilen sprachlos. Wir sitzen unweit der Strongest Fankurve, wo schon früh eine komplette Band mit Trommlern und Bläsern das Spielen anfängt und nicht aufhören wird, bis weit nach Abpfiff. Die Lieder haben ziemlich gute Melodien und Rythmen (meist aus Argentinien), und sind mit lokalen Texten versehen, die es in punkto Schimpfwortdichte und Untenrumvokabeln in sich haben.


Der Staatspräsident ist auch im Stadion und hält kurz vor Anpfiff aus dem VIP Bereich heraus eine kleine Rede, die per Radio übertragen wird. Fast alle Fans haben ein Radio dabei, und hören so simultan den Live-Kommentar. Die Stadionlautsprecher werden vor, während und nach dem Spiel nicht benutzt.



Das Spiel

Die Spieler betreten den Platz. Die Stimmung kocht über. Jetzt schon! Die Mexikaner sind allesamt größer und athletischer als die Bolivianer. Kann das gut gehen? Dennoch geht die erste Halbzeit (trotz 0:0) klar an Strongest. Sie haben mehr Chancen, sind angriffslustiger und auch etwas sicherer am Ball. Die in Deutschland obligatorische Halbzeitwurst mit Bier muss hier leider entfallen. Schließlich habe ich der Ehefrau vorher brav versprochen, im Stadion kein Essen anzurühren. Ich spüre ein leichtes Zittern in meinen leeren Händen, die sonst zu diesem Zeitpunkt wurstfett- und senfumschmiert den Bierbecher umfassen.


Dann beginnt die zweite Halbzeit. Inzwischen fegt ein kühler Wind durch das Stadion. Nach wenigen Minuten beginnt es außerdem zu regnen. Erst zaghaft. Plastiktütenregenmäntel werden feilgeboten. Dann heftig. Dicke Regentropfen in hoher Dichte prasseln herab. Das ist ein tropischer Regen, bei kühlen Temperaturen. Es ist halt Regenzeit in Bolivien und dem entsprechend hört es auch erstmal nicht auf. Nach zehn Minuten ist der Rasen ein See. Jeder Schritt ist wie ein Tritt in eine tiefe Pfütze. Der Ball rollt kaum mehr. Auf den Tribünenrängen schießt das Wasser von oben nach unten - auch dort wo es überdacht ist. Die Dachentwässerung leitet wegen Lecks in den Fallrohren das Wasser in den Innenbereich. Wir stehen bis zu den Knöcheln im kalten Wasser. Aber unten wird tapfer weiter gespielt und wir sind ja Té con té durchwärmt. Und auch die Band gönnt sich keine Pause. Inzwischen tanzen die hardcore Fans im Regen mit nacktem Oberkörper. Und dann endlich in der 86. Minute fällt das 1:0 und wenig später sogar das 2:0. Beide Tore erziehlt Escobar von The Strongest - der Held des Abends.


Als wir freudenvoll nach dem Spiel wieder auf die Straße gehen, hat wie durch ein Wunder der Regen aufgehört. Irgendwie kommen wir nachts in völlig überfüllten Bussen voller Fans zurück nach Hause. Der Tiger hat gebrüllt. Und wie!


Foto 1: Té con té ("Tee mit Tee) in der Wohnung von Ivan mit dem guten 15 jährigen Singani

Foto 2: Vor dem Stadion Hernando Siles La Paz 

Foto 3: Cousin Ivan kauft ein Schweinebrötchen ("Sandwich de Chola")

Foto 4: Blick auf die noch leere Haupttribüne im Stadion. Der Spruch "RUGIDO ATIGRADO" bdeutet "brülle wie ein Tiger!"