Ryan kommt. Der ehemalige Arbeitskollege macht bei uns drei Wochen Bolivienurlaub im Januar samt Jahreswechsel (von dem er wegen Höhenkoller nichts mitbekommen wird). Natürlich sage ich zu, ihn vom Flughafen in El Alto abzuholen. Nur wie? Die Fahrt dauert über eine Stunde, und El Alto ist nachts ein heißes Pflaster.
Taxi?
Ryans Ankunftszeit ist der 31.12.2014 um 1.22 Uhr. Als Ortsunkundiger selber mit dem Auto hoch nach El Alto zum Flughafen fahren, entfällt also. Das Telefonat mit dem Taxifahrer unseres Vertrauens, in dem ihm die Ankunftszeit erläutert wird, dauert sehr sehr lange. "Ja, es ist der Sylvestertag. Nein, nicht Sylvester nachts, wo alle feiern, sondern die nacht davor. Nein, nicht der 30.12. Ja, nachts, wenn es dunkel ist." ...usw... Der Taxifahrer, der mich abholen und dann mit mir nach El Alto fahren soll, scheint also gefunden.
Der Berater
Aber dann kommt doch alles anders. Der "Edeltaxista" bekommt von der Sache Wind und sagt sofort den Job zu. Es ist Onkel Javier, der im Folgenden in der Sache nur noch "der Berater" ("el consultor") genannt werden soll. Der Service ist von Anfang an familiär perfekt. Ich werde direkt vor der Haustür im abendlichen Chasquipampa abgeholt. Das geländegängige Fahrzeug, mit dem er unterwegs ist, macht einen zugleich vertrauenswürdigen und komfortablen Eindruck. Zwei Attribute, die man von normalen bolivianischen Taxis auf den Straßen von La Paz nicht erwarten kann. Die ursprünglich vereinbarte Zeit zu der er mich abholen wollte, hat er nochmal spontan weiter nach vorne verlegt. Er ist um 21.30 Uhr da. Warum nur so früh?
Draußen ist es finster und kühl - geschätzte 10 Grad. Ich habe nur das Nötigste dabei und immerhin eine dünne Jacke mit Halstuch an. Im Auto macht der Berater klar, dass wir jetzt erstmal in die Kneipe gehen. Darum so früh! Welch' brillianter Plan, denke ich. Mittwochabend. Das nahegelegene und sonst so angesagte Szeneviertel San Miguel wirkt ausgestorben. Der Berater spottet über die vielen neuen Läden. Der Fremde in seiner eigenen Stadt? Wir landen in einer mexikanischen Bar bei Bieren und Nachos (logisch). Das WLAN ist umsonst und die Speisekarte hat englische Untertitel. "Kennst Du das Diesel Nacional?" Nö. "Ist wie ein altes Flugzeug, liegt oben in der Innenstadt..."
Diesel Nacional
Und schon sitzen wir wieder im Fahrzeug. Von San Miguel geht es hoch Richtung Zentrum. Die Straßen werden enger, die Häuser höher. Ein altes Stadtviertel mit großen Bäumen. Der anvisierte Laden sieht von außen aus wie eine Industriebrache. Wir rufen aus dem Fenster zur Wachfrau, ob offen ist. Sie winkt ab: Nein. Warum kommen dann Leute aus der Tür? Wir parken das Fahrzeug und gehen (trotzdem) rein. Neben der Eingangstür hängt eine rostige Stahlplatte, in die mit einem Schneidbrenner "diesel nacional" geschrieben ist. Innen dunkel und verraucht. Gute Musik. Einige Kerzen und Elektrofunzeln geben schwaches Licht. Die Augen gewöhnen sich nur langsam. Der hohe Raum ist nach hinten verwinkelt. Alles ist aus Eisen- und Maschinenschrott gemacht: Die Tische, die Stühle, die Lampen, die Bar, Aschenbecher, Kerzenständer und ein riesiger Ofen in der Mitte. Motorenzylinder, Teile von Turbinen, Karosserien, Dampfkesseln, Getrieberäder und Radaufhängungen sind in höchst kunstvoller Art zu neuen Gegenständen transformiert und geben der Bar ein einzigartiges Ambiente. Gut besucht. Wieder Biere. Die Augen wandern über die vielen sonderbaren maschinenartigen Gegenstände im Zwilicht. Der Berater empfiehlt mir einen Blick in die Toiletten. Dort gleiches Bild: sanitäre Anlagen in hervorragender Qualität aus altem Metallschrott. Solide, funktional und einzigartig. Der ganze Laden ist Steampunk par exellence. Ich vergesse die Zeit. Irgendwann mahnt der Berater zum Aufbruch: "El Alto ruft."
El Alto und der Gringo Taxista
Jetzt geht es permanent steil hoch. Zunächst durch das mit Minibussen und Taxis überfüllte Zentrum von La Paz, vorbei an der "Nationalen Bolivianischen Brauerei", dann raus aus der Stadt auf die gesichtslose und finstre Stadtautobahn durch Niemandsland hoch nach El Alto. Die Luft wird dünner - oder sind es die Biere? Vermutlich beides in vorzüglicher Mischung. Müdigkeit überkommt mich noch dazu. Zahlstation und Checkpoint El Alto. Buenavista Panorama über La Paz in der Dunkelheit. Dann Staus und Straßenchaos in El Alto. Nach der Zahlstation und dem Checkpoint zum Flughafen sind wir auf der riesigen, ebenen Fläche, und es ist als würde man über das Flugfeld fahren. Zwischen dutzenden Taxis parken wir das Fahrzeug in einer Riesenpfütze im Matsch - der ganze Flughafen ist eine Dauerbaustelle. Als wir aussteigen schwankt alles. Die Kälte kriecht in den sauerstofflosen Körper. In El Alto ist es immer etwa 6 Grad kühler als in La Paz. Es hat nur 4 Grad. Vor 6 Stunden habe ich noch in der stechenden Sonne geschwitzt. Ein Nachtkaffee muss her. Café Alexander im Flughafen hat ihn.
Dann warten wir zusammen mit einigen Taxifahrern an der Tür für die ankommenden internationalen Flüge. Viel schäbiger kann ein Ankunftsterminal nicht sein. Die Türen sind zerbrochen, die Decke unverkleidet, die vier Sitzstühle fallen auseinander und überhaupt ist der ganze Raum mehr eine zugige Ecke. Der Berater erwähnt den Flughafen von Kigali, der im Vergleich gar nicht so schlecht sei. Ich verbrenne mir die Lippen am heißen Kaffee und hole dann mein Schild raus: "Taxi". Habe ich auf dem Schwarzmarkt in El Alto einige Tage zuvor extra für Ryan erworben. Dieses Schild liegt in jedem bolivianischen Taxi von außen gut sichtbar hinter der Windschutzscheibe. Von den Taxifahrern, die hier auf Kunden hoffen, ist aber noch niemand auf die Idee gekommen es mit in den Flughafen zu nehmen und hochzuhalten. Ich schon. Argwöhnisch werde ich beäugt. "Ein Gringo*, der Taxi fährt und uns die Kunden wegschnappt?!", denken die mit uns wartenden Taxifahrer und beißen sich auf die Lippen, bis schließlich doch einer den Berater anraunzt, was das solle.
Endlich kommt Ryan. Begrüßungsritual. Auto ist noch da. Sachen in den Kofferraum. Vorderer Sitz mit Ausblick und Trinkflasche mit Kokatee für den Gast. Noch gehts ihm gut und wir genießen die Panoramarückfahrt durch die nächtlichen Städte. Drei Wochen später geht der Flug tagsüber und wir machen den Flughafentransfer zu zweit mit Minibus und ÖPNV. Aber das, das ist eine andere Geschichte.
*Gringo = neutrale, (ggf. auch abwertende) Bezeichnung für (weiße) US-Amerikaner - aber auch für andere weiße Ausländer genutzt.

