Ein altes paar Trekking- / Halbschuhe, die ich 10 Jahre lang bei allen meinen bisherigen Bolivienaufenthalten getragen habe, sind irreparabel durchlöchert und damit reif für den Müll. Es ist ein Abschied, weil sie mir die vielen Geschichten erzählen, die ich mit ihnen erlebt habe. Ich erinnere mich an ein paar offene Lederhalbschuhe, eher Sandalen, mit denen ich in Indien und Mosambik unterwegs war, und bei denen der Abschied ein ähnlicher war. Ein paar olle Schuhe, zu denen ich eine fast sentimentale Beziehung entwickelt habe. Und dann ist da noch dieser riesige Haufen Krempel, den wir unbedingt für viel Geld in diversen Koffern von Bolivien nach Deutschland transportieren wollen. Was machen Dinge mit uns? Was passiert da?
"Stuff" - unser Krempel
Es gibt ein wunderbares Youtube-Video des US-Standup-Comedians George Carlin aus den 90ern in dem er sich über den Krempel lustig macht, den der Mensch ständig mit sich herumschleppt. Er nennt es den "stuff". Wir könnten ein leichtes, freies und wunderbares Leben haben, wäre da nicht unser Bedürfnis uns ständig mit Kram zu umgeben. Am Anfang war alles gut, aber dann schaffen wir uns einen Koffer an, ein Haus, ein Auto und stopfen weitere Dinge hinein, bis wir den Überblick verlieren und nur noch mit Horten, Sortieren, Aufpassen und Herumtragen beschäftigt sind. Die Zeiten, in denen wir nichts tun außer auf den Himmel, die Landschaft, das Meer oder das Gesicht unseres geliebten Menschen zu schauen, werden stetig kürzer, weil wir uns immer mehr um den Kram kümmern. Bis wir es am Ende verlernt haben, etwas anderes zu tun, als zu Sortieren, Horten etc... Wir sind vollends zur Marionette unseres eigenen Krempels geworden.
Ich finde die Ambivalenz von "Stuff", von Objekten, die wir besitzen und die dann uns besitzen, zum Himmel schreiend. Einerseits gibt es so wunderbare Objekte, mit denen ich Unglaubliches tun kann, oder die mir so wunderbare persönliche Geschichten erzählen. Objekte, die mich so sehr bereichern, dass ich sie niemals missen möchte. Und andererseits ist da dieser Aspekt des Ballasts und des Ablenkens als unschöne Fähigkeit von Objekten. Und dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, welches sich einstellt, wenn man fast vollständig frei von Besitz ist, und nach dem ich fast süchtig werden könnte.
Ich sehe mehrere Möglichkeiten, wie man den negativen Fluch von Objekten vermeiden kann - drei Strategien, wie ein Gegenstand, den ich nutze und der mir gehört, schön und beherrschbar bleibt:
"Weniger ist besser" (Dieter Rams)
Die absolute Menge an Kram, die ich besitze, soll überschaubar bleiben. Zu viele Objekte wachsen mir buchstäblich über den Kopf und umschlingen mich. Dazu muss ich die Verve und den Mut haben, auch einmal mit Freude etwas wegzugeben. Ich finde das nicht selten sehr schwer. Hierzu gibt es ein tolles Video, welches den Bereich Klamottenvielfalt betrifft: "The ten item wardrobe" von Jennifer L. Scott.
Alte Objekte, die schöner werden
Objekte haben zweifelsohne ihre eigene Energie. Sie machen den Prozess der Aneignung verschieden schwer. Sie drängen sich dem Besitzer oder Nutzer verschieden stark auf. Ich vermute, dass schlichte Objekte, die Nutzer- und Nutzungsoffen sind, die auch gealtert und mit Patina schön bleiben, oder sogar schöner werden und die offen für Transformationsprozesse sind, weniger dazu neigen den o.g. Fluch mit sich zu führen. Auch dazu gibt es ein tolles Video mit einigen brillianten Statements von Jonathan Ive: "Objectified".
Mein Besitz gehört nicht mir
Und doch spielt sich am Ende alles in meinem Kopf ab, wie Objekte in mein Leben eingreifen. Es ist vielleicht eine Frage der Einstellung, der Einstufung und Priorisierung. Nicht Besitzer sein, sondern Nutzer: Ich fühle oft, dass "meine" Gegenstände mir gar nicht gehören. Ich nutze sie nur eine Zeit (Schuhe, Mobiltelefon, Haus, Auto, etc..) Wenn ich sie zuende genutzt habe, geht das Leben des Gegenstands woanders, bei jemand anderem weiter. Mir gefällt dieser Gedanke. Ich weiss, dass es dem Objekt, zu dem ich eine Beziehung aufgebaut habe "gut geht". Das, was ich mit dem Objekt begonnen habe, geht irgendwie weiter.
Meine Schuhe aus Indien habe ich unserem Wachmann und Gärtner in Mosambik geschenkt als wir uns aus dem Land verabschiedet haben. Für Deutschland wären die Schuhe zu leicht und offen gewesen. Nun nutzt Sr. Patricio sie weiter. Ich weiss, dass er jeden Tag mit den Schuhen runter zum Fluß geht, um nach seinem Acker zu schauen. Und durch diese ollen Schuhe bin ich irgendwie dabei, bzw. habe die Verbindung zu ihm nicht verloren. Ähnliches, da bin ich mir sicher, wird mit den Schuhen passieren, die ich in La Paz in den Müll gegeben habe. Die Liste geht endlos weiter: mein Elternhaus, unser jetziges Haus, die ganzen Gegenstände, die wir vor unserem Indienaufenthalt weggegeben haben - alle diese Objekte sind besitzlos und frei. Sie verbinden, stellen rote Fäden und Bezüge dar und können wundersame Geschichten erzählen. Aber eben nur, weil sie frei sind.
Gegenstände kommen und gehen. Das, was wir mit ihnen erleben, bleibt. Collect moments, not things. "Schon seltsam, wie leicht man vergisst, dass alles, was man tut, für immer ist." (Wiglaf Droste und das Spardosenterzett)
Wir haben die ca. 200kg Gepäck aus Bolivien übrigens trotzdem nach Deutschland rübergeschafft, und gehen davon aus, dass es sich irgendwie gelohnt hat.
