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072/2016 - Fischkopp-Wintersports in der Bahnhofspizzeria


In der Bahnhofspizzeria mit freiem WLAN und Tischsteckdosen läuft hinter mir Wintersport auf dem Megaflatscreen. Ich höre und sehe bewusst weg, doch auf einmal kommt die Live-Schalte zum Skispringen nach Titisee-Neustadt im Hochschwarzwald. Mir fällt die Gabel aus der Hand. 

Es ist 19 Jahre her, dass Titisee-Neustadt für andertalb Jahre mein Wohnort war, an dem ich in der örtlichen Berufsschule die Grundlagen des Tischlerhandwerks erlerne. Als norddeutscher Fischkopp mitten im Schwarzwald. Die Bilder auf dem Fernseher zeigen in der Totalen die Skisprunganlage - und da sind sie wieder meine Bilder aus der Vergangenheit:

Ein Abend an einem Wochenende im tief verschneiten Winter in Titisee Neustadt. Ich ziehe mitten in der Nacht mit meinem Kumpel Tobias, einem Rucksack voller Biere und zwei großen Müllsäcken los zur großen Skisprungschanze hoch oben am dunklen Rand der Stadt. Majestätisch ragt die Anlage in den Himmel, als wir unten am Fuße davor stehen. Im dichten Schneetreiben blicken wir voller Respekt nach oben. Die Idee da irgendwie runterzurodeln fixt uns an - berauscht uns. Der Mut ist angetrunken, und wir stapfen unter Mißachtung der "Betreten verboten" Schilder den steilen Hang nach oben. Der Schnee ragt weit über unsere Knie und jeder Schritt kostet Kraft. Am oberen Ende des Auslaufhanges angekommen, der Absprungtisch der Schanze in unserem Rücken, blicken wir nach unten in die verschneite Tiefe. Das Ende des steilen Hanges liegt irgendwo da unten verborgen im tiefschwarzen Schneegestöber. Gleichzeitigkeit von Bammel und Schwindel macht sich breit.  

Egal. Wir nehmen ein letztes Bier, breiten die Müllsäcke aus und stürzen uns den Hang hinab. Weil der Schnee tief ist, bekommen wir anfangs erst langsam Fahrt auf. Aber dann gehts ab. Pure Beschleunigung. Es ist wie Fallen. Die Gischt des Schnees peitscht uns ins Gesicht. Die Augen lassen sich kaum öffnen; an Bremsen ist nicht zu denken. Die Lichter der Stadt im Tal rasen auf uns zu. "Wird der Auslaufbereich reichen, um zum Halt zu kommen"? Ich habe Zweifel. Wir schreien vor Euphorie und Jubel und Bauchkitzel. "War da unten irgendwo ein Draht als Absperrung gespannt, den wir beim Raufkommen übersehen haben?" Nö - alles gut. Wir kommen zum Halt und kehren triumphal als Helden in die schlafende Stadt zurück. 

Auf dem Fernseher stürzt sich der nächste Springer die Schanze herunter und ich widme mich wieder meiner Pizza.

Foto: Mit dem Rücken zum Skispringen